Plattformarbeit: Ist unser Rentensystem zukunftsfit?
In der Plattformökonomie entstehen neue Formen des Arbeitens, die neue Herausforderungen an die soziale Sicherung stellen. Wie ist es um die Zukunftsfähigkeit unseres Alterssicherungssystems bestellt?
Seit mehr als einem Jahrhundert gewährt die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland Millionen von Menschen Schutz vor Altersarmut. Pflichtversicherte Beschäftigte zahlen einen am Arbeitslohn orientierten Beitrag und erhalten im Alter Leistungen zur Existenzsicherung. Hat dieses Prinzip noch eine Zukunft? In der öffentlichen Debatte ist die Frage kaum noch zu überhören, ob das Rentensystem nach dem Umlageverfahren den gegenwärtigen Herausforderungen gewachsen und noch zukunftsfähig ist. Insbesondere junge Menschen treibt die Sorge um, ob sich ihre heutigen Rentenbeiträge in auskömmliche Renten im Alter niederschlagen werden.
Unbestritten ist, dass das deutsche Rentensystem seit seinem Bestehen zu sozialem Frieden im Land beigetragen hat. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass das System äußerst voraussetzungsreich ist. So sind etwa nicht nur bestimmte demographische Konstellationen erforderlich, damit die gegenwärtigen Beitragszahler die Renten der Ruheständler in ausreichendem Maße finanzieren können, ebenso beruht das deutsche Rentensystem auf dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis als Standard sowie einer großen Kontinuität von Erwerbsverläufen.
Wandel der Arbeitswelt
Jedoch droht dieses Fundament angesichts eines Wandels der Arbeitswelt zu erodieren: Erwerbsbiographien verlaufen nicht mehr mit derselben Kontinuität wie jene des „Eckrentners“ – dem Musterfall des Altersrentenbeziehers, der während seines gesamten Arbeitslebens von 45 Jahren durchgängig ein durchschnittliches versicherungspflichtiges Arbeitseinkommen erzielt und dementsprechend Beiträge in das Rentensystem eingezahlt hat. Vielmehr sind Erwerbsverläufe heute immer häufiger dadurch gekennzeichnet, dass sich Phasen der Selbständigkeit und der abhängigen Beschäftigung abwechseln oder sogar parallel verlaufen. Generell steigt seit den 1990er Jahren in Deutschland die Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse – darunter Solo-Selbständigkeit und versicherungsfreie Mini-Jobs – an. Da selbständige Arbeit keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auslöst, führt die Erwerbshybridisierung zu lückenhaften Versicherungsverläufen.
Machtasymmetrie stellt den Status in Frage
Wie unter einem Brennglas zeigt sich dieser Wandel in der Plattformökonomie. Crowd-, Click- und Gigworker arbeiten hier zumeist nebenbei. Nicht selten für eine Bezahlung von nur wenigen Euro und gelten in der Regel als Selbständige. Zum einen bedeutet Arbeit in der Plattformökonomie große Flexibilität. Da Kundenakquise und Distributionskanäle über die Internetplattform laufen, fallen vergleichsweise geringe Gründungskosten an. Insgesamt bietet die Plattformökonomie einen niedrigschwelligen Zugang zur Einkommenserzielung. Auf der anderen Seite ist mit Plattformarbeit nicht jene Freiheit verknüpft, die gewöhnlich mit Selbständigkeit assoziiert wird. Arbeitende begeben sich in ein Plattform-Ökosystem, in dem die technische Infrastruktur der Plattform zu einem großen Teil über die Art und Weise der Arbeitsausführung bestimmt. Hieraus entsteht eine Machtasymmetrie. Sie gibt vermehrt Anlass, den Status der Selbständigkeit zu bezweifeln und legt eine Schutzbedürftigkeit von Plattformarbeitskräften in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht nahe.
Externalisierung von Kosten als Teil des Geschäftsmodells
Es ist unschwer zu übersehen, dass der skizzierte Wandel der Arbeitswelt – insbesondere in der Plattformökonomie – das Potenzial hat, zu einer Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme zu führen. Plattformen stellten sich bislang – erfolgreich – auf den Standpunkt, sie agierten bloß als Vermittler, weshalb die Beschäftigten als Selbständige und mithin versicherungsfrei tätig würden. Die soziale Absicherung fällt also in den Verantwortungsbereich der Plattformarbeitskräfte und wird in der Praxis zumeist unterlassen. Das Problem wird teilweise abgemildert, da sich viele Plattformarbeitskräfte auf die Absicherung aus einer Hauptbeschäftigung verlassen. Insgesamt muss man zu dem Schluss kommen, dass man es in der Plattformökonomie mit einem ausgeprägten Trittbrettfahrerproblem zu tun hat. Man wird sogar so weit gehen dürfen festzustellen, dass die erfolgreiche Externalisierung von Kosten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Funktionieren der Geschäftsmodelle der Plattformökonomie leistet.
Dynamisch wachsender Bereich
Wie groß ist dieses Problem aber wirklich? Wird die Rentenversicherung durch die Plattformökonomie so ernsthaft herausgefordert, dass deren Zukunftsfitness in Gefahr gerät? Lange Zeit wurde Plattformarbeit als wenig sichtbares Randphänomen abgetan, das eine Regulierung nicht rechtfertige. Dieser Teil des Arbeitsmarkts lässt sich nur äußerst schwer in Zahlen fassen. Eine amtliche Arbeitsmarktstatistik zu Plattformarbeit liegt nicht vor. Zudem gelangen diverse Studien aufgrund unterschiedlicher Definitionen und Grenzziehungen zu stark divergierenden Schätzungen. Einigkeit herrscht allerdings hinsichtlich der Einschätzung, dass es sich um einen dynamisch wachsenden Bereich handelt. Aufgrund dessen werden Plattformarbeit und ihre Regulierung von politischer Seite durchaus ernstgenommen. Verschiedene Initiativen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zeugen davon. Zudem ist es aus der angesprochen engen Verquickung mit einem generellen Wandel der Arbeitswelt angebracht, in Fragen der Alterssicherung auch auf die Plattformökonomie zu fokussieren.
Besteht für das Rentensystem Handlungsbedarf?
Nun ließe sich natürlich argumentieren, dass es eines besonderen Augenmerks auf Plattformarbeit schon allein deshalb nicht braucht, weil man diese Frage schlicht als Fall des Problems der sozialen Absicherung Selbständiger betrachten könnte. Abgesehen davon, dass die Alterssicherung Selbständiger bereits seit Langem als unzulänglich erkannt ist und deshalb bereits auf der politischen Agenda steht, sollte man nicht die Augen vor den Besonderheiten von Plattformarbeit verschließen. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass rechtlich gesehen ausreichender Schutz gegeben ist, so mag dies faktisch noch lange nicht der Fall sein. In der Plattformökonomie sind stark schwankende sowie häufig extrem niedrige Einkommen zu verzeichnen.
Allein deshalb fällt der Alterssicherungsschutz gering aus und sind Absicherungslücken zu befürchten. Dazu kommt noch, dass in Deutschland die gesetzliche Altersabsicherung Selbständiger freiwillig ist. In der Praxis macht nur eine kleine Minderheit davon Gebrauch. Es sind sicherlich nicht die neuen Herausforderungen durch die Plattformökonomie allein, die die Zukunftsfitness unseres Alterssicherungssystems in Frage stellen. Doch trägt diese relativ neue Problematik ihr Scherflein zur Reformbedürftigkeit des deutschen Rentensystems bei.
Nora Stampfl von f/21 Büro für Zukunftsfragen ist die Autorin der DIA-Studie „Was wird aus der Rente bei Gig- und Clickwork?„
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