Realer Blick auf die Realeinkommen
Die Realeinkommen der ärmsten 40 Prozent der Deutschen seien seit der Wiedervereinigung nicht gestiegen. Mit dieser Aussage aus der Einkommensstatistik befeuerten SPD und Linke ihren Wahlkampf um mehr soziale Gerechtigkeit. Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln zeigt, dass dieser Befund bei genauerer Betrachtung an Aussagekraft verliert.
Die unteren Einkommensschichten, so eine Aussage aus dem linken Parteienspektrum, haben nicht vom Wirtschaftsaufschwung profitiert. Als Beleg dafür berufen sich die Verfechter dieser These auf Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). Das ist eine Langfristbefragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin. Danach gingen die durchschnittlichen Realeinkommen der jeweils ärmsten zehn Prozent eines Jahres von 1991 bis 2014 tatsächlich um neun Prozent zurück. Bei den jeweils ärmeren 40 Prozent der Bevölkerung lag das Einkommen im Jahr 2014 in etwa auf dem Stand von 1991. Die Statistik scheint den Kritikern von der linken Flanke also Recht zu geben.
Nach Untersuchungen von IW-Ökonomin Judith Niehues ergeben sich allerdings dicke Fragezeichen zur Plausibilität dieser Daten und zur realen wirtschaftlichen Entwicklung. Ein genauerer Blick auf die Erhebung der Daten liefert eine Erklärung. Die Stichproben des SOEP werden neben der üblichen zufallsbasierten Auffrischung seit 2010 durch spezielle Stichproben von Alleinerziehenden, Mehrkindfamilien, Familien mit kleinen Kindern und Familien im kritischen Einkommensbereich sowie durch zwei Migrationsstichproben (2013/2015) ergänzt. Damit bekommen Wissenschaftler auch repräsentative Auswertungen von solchen spezifischen Teilgruppen der Bevölkerung. Für die Auswertung der Gesamtheit bleibt das aber nicht ohne Folgen.
Sondereffekt durch Migrationsstichprobe
So veränderte zum Beispiel die Migrationsstichprobe von 2013 stark die Entwicklung der Einkommen. Judith Niehues hat diesen Sondereffekt einmal herausgerechnet. Ohne ihn wird aus dem Rückgang der Realeinkommen der ärmsten zehn Prozent ein Anstieg von 0,5 Prozent. Bei den unteren 40 Prozent verkehrt sich ein Minus von 2,3 Prozent in ein Plus von 0,7 Prozent. „Die Ergänzung der zusätzlichen Beobachtungen mit Migrationshintergrund“, so schreibt Niehues, „hat demnach zu einer Reduktion der Realeinkommen der unteren 40 Prozent um rund drei Prozentpunkte zwischen den beiden Jahren geführt.“ Sie greift allerdings zugleich den Einwand auf, dass der Querschnitt mit der Migrationsstichprobe besser abgebildet werde und die Einkommen im unteren Bereich ohne diese Befragungen zuvor überschätzt worden seien. Da aber viele der Befragten aus dieser Gruppe bereits in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen sind, wäre zumindest der Zeitpunkt des Einkommensrückgangs falsch terminiert, entgegnet die Wissenschaftlerin darauf.
Anderer Zeitraum, deutlich anderes Ergebnis
Wie sehr die Ergebnisse vom Erhebungszeitraum abhängen, zeigt eine weitere Berechnung in der IW-Studie. Zwischen den Jahren 1993 und 1994 ist ein starker Einkommenseinbruch bei den ärmsten zehn Prozent zu beobachten. Auch er kann durch die Einführung einer neuen Migrationsstichprobe erklärt werden, wenn auch nicht in vollem Umfang. Diese Gruppe startet daher mit einem realen Minus von gut zehn Prozent ab Mitte der 90er Jahre. Das hat wiederum erhebliche Auswirkungen auf das Ergebnis der unteren 40 Prozent in der Einkommensstaffelung. Daher verschiebt die Studienautorin in einer weiteren Berechnung den Startzeitpunkt der Betrachtung von 1991 auf 1994. Dadurch rückt die Realeinkommensveränderung der ärmsten zehn Prozent in den positiven Bereich (von – 8,5 Prozent auf +1,9 Prozent). Der Zugewinn der unteren 40 Prozent erhöht sich um mehr als drei Prozentpunkte.
Wohlstandsgewinne in allen Einkommensschichten
Bei Berücksichtigung dieser Sondereffekte gelangt Niehues zur Schlussfolgerung, dass die Wohlstandsgewinne durchaus auch bei den Einkommensschwächeren ankommen. „Seit 2005 haben die unteren Einkommen relativ in nahezu gleichem Maße von der guten Gesamtlage profitiert wie die mittleren und oberen Einkommen“, fügt die Wissenschaftlerin hinzu. Leider gehen Politiker bei ihren Einschätzungen selten so in die Tiefe. Um gezielt Einfluss auf soziale Prozesse zu nehmen, wäre das aber notwendig. Anderenfalls setzen die Instrumente an der falschen Stelle an.
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