Pflege: Mutter, wann stirbst du endlich?
Die Zahlen rund um das Thema Pflege sind bekannt, die Schicksale dahinter in den meisten Fällen nicht.
Im DIA-Interview spricht Martina Rosenberg, Autorin des SPIEGEL-Bestsellers „Mutter, wann stirbst Du endlich?“ (Blanvalet Verlag), über ihre sehr persönlichen Erlebnisse.
Ihr Buch, ihre Erfahrungen und ihr Standpunkt machen dabei auch deutlich, wo es im Hinblick auf die aktuelle Situation der Pflege in Deutschland noch Handlungsbedarf gibt. Vor allem aber zeigt es auf, welche finanziellen, physischen und psychischen Belastungen mit der Pflege von Angehörigen einhergehen können.
Sie haben für Ihr Buch einen Titel gewählt, der auf den ersten Blick erschrecken mag. Erst mit fortschreitender Lektüre erschließt sich, was hinter diesem Gedanken steht. Man kann diese Frage ja auch als Bitte lesen. Vielleicht erzählen Sie uns kurz, welchen Stellenwert dieser Titel und das Buch für Sie persönlich haben?
Zunächst war es mir wichtig aufzuzeigen, dass man trotz guten Willens und viel Liebe der pflegenden Angehörigen dennoch scheitern kann, nämlich dann, wenn die zu Pflegenden nicht mitmachen (können) oder das Umfeld von den Angehörigen zu viel erwartet und letztendlich, wenn das System immer größere Hürden aufbaut in Form von Formularen, Gutachten und schwer verständlichen Texten. Dieser Buchtitel ist bewusst gewählt, weil er authentisch das aussagt, was ich viele Jahre gedacht habe. Er erscheint nur dann grausam, wenn man die Geschichte dazu nicht kennt. Mitunter kann das Leben an einen Punkt gelangen, da ist der Tod die menschlichere Alternative, wie bei meiner Mutter.
„Warum ist die Leistung der häuslichen Pflege so viel weniger wert?“
Sie beschreiben auch, wie Sie das als ungerecht empfundene System von Pflege- und Geldleistungen erlebten. Können Sie das konkretisieren?
Ich habe während der ganzen Zeit nicht so richtig verstanden, weshalb die Pflegekasse meinen Eltern nicht das gleiche Geld zukommen lassen wollte wie dem ambulanten Pflegedienst. Da wir ihre Pflege selbst mit Pflegekräften organisierten, erhielten wir nur die Hälfte an Geldleistung. Obwohl doch eigentlich klar sein müsste, dass eine schwer demenzkranke Person nicht mehr vom ambulanten Pflegedienst allein betreut werden kann. Warum ist die Leistung der häuslichen Pflege so viel weniger wert?
Altern ist ein Prozess; in Ihrem Buch verspürt man Seite um Seite, dass für das Fortschreiten von altersbedingten Erkrankungen Ähnliches gilt. Gibt es damit verbunden Momente, in denen Angehörigen das bewusst wird, und wie lässt sich damit umgehen?
Den Verlust der Fähigkeiten von geliebten Menschen zu beobachten ist schwer und tut weh. Vor allem, wenn man persönlich erlebt, wie verzweifelt Betroffene selbst sind. Das ganze Leben gerät plötzlich aus den Fugen und Kleinigkeiten werden plötzlich zu einer riesigen Herausforderung. Wenn die Mutter heute nicht mehr weiß, wo ihr Zuhause ist, dann kommt unweigerlich die Sinnfrage: Warum muss ein Mensch das erleben? Ich habe für mich gehofft, dass sich diese Frage vielleicht irgendwann beantworten lässt – auch wenn dies vermutlich jeder Mensch mit sich selbst abmachen muss. Geholfen hat mir stets das tägliche Gespräch mit meinem Mann oder auch mit Freunden.
Sie schreiben, dass Sie Ihrem Hund eher helfen konnten als Ihrer Mutter, wenn es darum geht, das „Sterben“ zu erleichtern. Sie berichten an anderer Stelle auch, dass hinsichtlich des „Sterbens“ eine gesellschaftliche Erwartungshaltung existiere. Wie beurteilen Sie diesen Aspekt jetzt – mit ein wenig Abstand?
Da hat sich meine Meinung nicht geändert. Nach wie vor bin ich fest davon überzeugt, dass unsere Gesellschaft wieder einen natürlicheren Umgang mit dem Tod benötigt. Wir müssen uns mehr damit auseinandersetzen und ihn zu gegebener Zeit auch zulassen. Aufhalten können wir ihn eh nicht, denn kommen wird er, so oder so. Den Tod zu akzeptieren, heißt doch auch, das Leben mehr zu schätzen.
„Hier sind nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Unternehmen und Arbeitgeber gefragt.“
Pflege zu organisieren, verheißt vermutlich bürokratische und formelle Barrieren zu überwinden. Wie sehen Sie das mit Ihrem doppelten Erfahrungshorizont?
Ja, das ist auf alle Fälle so. Die Angehörigen kämpfen an mehreren Stellen. Nicht nur, dass sie das Leben eines geliebten Menschen plötzlich und oft unerwartet organisieren müssen. Sie haben Anträge auszufüllen und Telefonate zu führen. Sie erklären Sachbearbeitern mittels Formularen den Verfall der Eltern oder des Ehepartners. Am liebsten noch im Multiple-Choice-Verfahren. Das kann einen schnell an die eigenen Grenzen führen. Es scheint in dieser extrem außergewöhnlichen Lebenssituation völlig surreal.
Pflege kostet nicht nur Geduld und Aufwand, sondern auch Geld, wie haben Sie das bewältigen können?
Meine Eltern haben über eine gute Pension verfügt und außerdem im Laufe ihres Lebens ein wenig Vermögen angespart. Das wurde allerdings komplett für ihre Pflege verwendet.
Frauen stehen in der eigenen Erwerbsbiografie oft vor einer doppelten Herausforderung: Erst werden die Kinder erzogen, später die Eltern gepflegt. Finden Sie sich für diese doppelte Belastung ausreichend anerkannt, gesellschaftlich und finanziell, zum Beispiel mit Blick auf die eigene Rente?
Sicher nicht. Zu welchem Zeitpunkt und wovon sollten Frauen auch genug in die Rentenversicherung einbezahlt haben? Und aus einer Doppelbelastung kann oft eine Dreifachbelastung werden, wie bei mir. Nehmen wir ein Beispiel: Eine Frau „wagt“ ein Studium und geht bestenfalls mit 23 in den Beruf; arbeitet etliche Jahre, dann kommen zwei Kinder, für die wiederum beruflich ausgesetzt wird. Beim Wiedereinstieg in das Erwerbsleben steht sie vor großen Schwierigkeiten, einen adäquaten Job zu finden – schon gar nicht in Teilzeit. Vollzeit würde sie auch machen, findet aber keinen Ganztagesplatz für ihre Kinder. Die Arbeitsplatzsuche kostet Nerven, Zeit und Rentenansprüche. Irgendwann, aber viel zu früh, werden die Eltern pflegebedürftig.
Die Frau ist mittlerweile vielleicht Ende 40 und hat insgesamt rund 18 Jahre gearbeitet. Nun nimmt sie sich eine Pflegeauszeit, wie Frau Schröder (A. d. R.: die Bundesfamilienministerin) es vorschlägt und kümmert sich wieder drei bis vier Jahre um ihre Eltern, vielleicht auch länger. Nun ist sie über 50 Jahre alt und steht vor einer ungewissen Zukunft und wichtigen Fragen: Wer stellt sie jetzt noch ein? Wie hoch wird ihre Rente sein?
Aber es geht ja nicht nur um die Rente. Es geht um den ständigen Zwiespalt, in dem sich Frauen befinden, und um ihre von vornherein verringerten Chancen, weil sie Kinder bekommen können oder schon welche haben. Und wenn dann noch die Eltern pflegebedürftig werden … Hier sind nicht nur die Gesellschaft im Ganzen, sondern auch die Unternehmer und Arbeitgeber gefragt, dieser mehrfachen Belastung eindeutig mehr moralischen und finanziellen Tribut zu zollen.
Martina Rosenberg schildert in ihrem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich“ die ganz privaten Seiten der Pflege von Angehörigen. Sie wirft damit zugleich die Frage auf, warum die häusliche Pflege der Gesellschaft weniger „wert“ ist als die Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst.
Nachricht an die Redaktion
Senden Sie Hinweise, Lob oder Tadel zu diesem Artikel an die DIA Redaktion.
Ausgewählte Artikel zum Thema
Ohne Vorsorge wird Rente zum Pflegefall
Wer Altersvorsorge ernst nimmt, kann das Thema „Pflege“ nicht außen vor lassen, denn zur Erhaltung der Lebensqualität im Alter gehört eine würdige Versorgung im Pflegefall. Dazu zählt auch die finanzielle Absicherung der dafür benötigten Leistungen. DIA stellt aus Anlass des Tages der Pflege (12. Mai) die Absicherung für und den Umgang mit dem Pflegefall in […]
Artikel lesen