Länger arbeiten heißt länger leben
Ein späterer Renteneintritt erhöht die Lebenserwartung. Wer nicht mehr gefordert wird, stirbt folglich früher.
Wer heute in Rente geht, hat oft noch 20 oder sogar 30 Jahre Ruhestand vor sich. Viele unterschätzen die Länge der Rentenzeit. Wer dann nichts zu tun hat, altert schneller und lebt somit kürzer.
Im Sessel entspannen, in der einen Hand einen Drink und in der anderen die Fernbedienung. Seinen Garten genießen – alles ganz relaxt angehen. So stellen sich viele den perfekten Ruhestand vor. Doch Nichtstun ist ein erheblicher Altersfaktor, warnen Neurobiologen. Wer nichts mehr zu tun hat, baut ab und lebt somit kürzer. Eine kleine Pause im Liegestuhl ist sicherlich nicht das Problem. Dort allerdings den überwiegenden Teil seiner Zeit zu verbringen, verblödet.
Darauf macht Alexander Hagelüken, leitender Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, in seinem neuen Buch „Lasst uns länger arbeiten!“ aufmerksam. Darin fragt er sich, wie das Alter aktiv gestaltet werden kann. Um nur zu faulenzen, ist die Rentenzeit seiner Meinung nach nämlich zu lang. Bereits nach drei Jahren Ruhestand ist der Körper „runtergefahren“. Das Gehirn ist nicht mehr gefordert und verliert immer mehr Kontakte, durch die die Nervenzellen miteinander verknüpft sind. Dann ergeht es uns ähnlich wie Tieren im Winterschlaf. Im Frühjahr wachen sie leicht benommen auf und müssen sich teilweise ganze Fähigkeiten wieder neu aneignen.
Arbeit hält uns jung
Arbeit hingegen stimuliert das Gehirn. Sogar die Auseinandersetzung mit den Kollegen belebt, selbst wenn diese manchmal nerven. Wir brauchen Anregungen und Stressreize, denn das hält uns lebendig und kreativ. Zudem ist es für die Menschen ungeheuer wichtig, eine Aufgabe zu haben. Entgegen der allgemeinen Auffassung ist es nicht der Beruf, der einen alt und krank werden lässt. Im Gegenteil – Inaktivität senkt die Lebenserwartung. Wer also länger arbeitet im Rentenalter, hält sich geistig fit. Auch das gesetzliche Rentensystem profitiert von mehr arbeitenden Senioren. Auf lange Sicht kann die steigende Lebenserwartung nicht ausschließlich zu einer längeren Ruhestandsphase führen. Wir brauchen mehr Erwerbstätige, weniger Rentner.
Körperlich schwere Arbeiten übernehmen zunehmend Maschinen
Allerdings ist nicht jeder Job bis in hohe Alter ausführbar. Körperlich schwere Arbeit hält nicht wirklich jung, sondern schadet eher. In unserer modernen Gesellschaft werden diese Berufe jedoch immer weniger. Das Dreckige und Schwere, wie es Hagelüken ausdrückt, übernehmen heutzutage zunehmend Maschinen. Während des Wirtschaftswunders in den Fünfziger Jahren werkelten noch die meisten Arbeitnehmer in der Industrie. Mittlerweile ist es nur noch jeder Vierte. 30 Millionen Deutsche hingegen sind bei Dienstleistern angestellt. Arbeiten wird körperlich leichter. Prognosen sagen voraus, dass Computer bereits bis 2025 die Hälfte aller Arbeitsstunden übernehmen. Aktuell sind es schon 30 Prozent. Auch Berufe mit vielen Routineprozessen wie bei Buchhaltern oder Sachbearbeitern werden teilweise oder sogar ganz ersetzbar sein.
In einer Sache können uns Maschinen nicht ersetzen
Werden diese Personen also künftig alle arbeitslos? Wohl eher nicht, denn der Mensch wird bald für etwas anderes mehr gebraucht. Für Eigenschaften, die Maschinen noch lange nicht besitzen, vielleicht sogar nie besitzen werden: Kreativität, Urteilsfähigkeit, Einfühlungsvermögen oder psychologisches Geschick gegenüber Mitmenschen. Der Autor rät daher, sich schon jetzt auf solche Tätigkeiten zu konzentrieren, um in der Digitalisierung weiter Arbeit zu haben. Das Kreative und Soziale ist auch viel spannender als Schufterei und Büroroutine.
Das hat gleich noch einen weiteren positiven Effekt. Je abwechslungsreicher Berufe gestaltet sind, desto lieber und länger arbeiten Erwerbstätige darin. Aber dazu müssten nach Hagelüken viele Menschen erst einmal das Stereotyp in ihren Köpfen überwinden, dass der Job ab 60 möglichst schnell beendet werden muss. Personen, die sich im Rentenalter noch etwas dazu verdienen, werden reflexartig bedauert. Es ist psychologisch tief verankert, ein Alter ganz ohne Arbeit als soziale Errungenschaft zu betrachten. Aus dieser Tradition speist sich auch das Denken: Wer als Rentner berufstätig bleibt, muss arm sein. Diese Deutung ist aber so verbreitet wie falsch.
Der Papst und Mick Jagger machen es vor
Beispiele gegen diese Annahme lassen sich haufenweise finden. Politiker, Schauspieler, Unternehmer – sie alle arbeiten oft noch weit über das gesetzliche Rentenalter hinaus. Ihre Beweggründe sind wohl kaum Geld, sondern vielmehr Spaß an der Arbeit. Mick Jagger sang, tanzte und hechtete sogar mit 75 im vergangenen Jahr noch über die Bühne. Der Papst zählt stolze 82 Jahre. Mit 65 legt auch kaum ein Schriftsteller den Stift aus der Hand oder ein Maler den Pinsel. Das ist bereits seit Jahrhunderten so. Goethe schrieb mit 80 am Faust, Monet malte im selben Alter noch und selbst Jupp Heynckes führte den FC Bayern München mit 73 Jahren zur Meisterschaft.
Diese Menschen arbeiten nicht, obwohl sie so alt sind. Sie werden so alt, weil sie arbeiten. So ist es kein Zufall, dass die alten Künstler erstaunlich lange lebten: Michelangelo 89, Verdi 88 oder Shaw 94. Das zu einer Zeit mit einer deutlich niedrigeren Lebenserwartung als heute. Die Ursache ist der ungebrochene Schaffensdrang und Spaß an der Sache. Der damals 81-jährige Bandleader James Last erklärte: „Ich sage nicht, dass ich arbeite, ich sage: Ich mache Musik.“
Wenn wir länger leben, müssen wir auch länger arbeiten
Auch ein Mensch, der körperlich eingeschränkt ist, kann dem seelisch-geistig sehr viel entgegensetzen. Der damals schwerkranke und erblindete Bach komponierte aus dem Stegreif eine dreistimmige Fugenimprovisation. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ist seit 30 Jahren querschnittsgelähmt und aktiv wie eh und je. Mit seinen 76 Jahren gehört er zu der großen Gruppe von Politikern, die im klassischen Rentenalter arbeiten. Erstaunlich ist dabei nur, wie viele dieser Politiker trotz der eigenen Erfahrung eine längere Lebensarbeitszeit für die übrige Bevölkerung kategorisch ablehnen.
Alexander Hagelüken warnt in seinem im März 2019 erschienenen Buch „Lasst uns länger arbeiten“ vor dem, was uns droht: sinkendes Rentenniveau, höhere Beiträge, steigende Gesundheitskosten und mangelnde Vorsorge. Für alle unter 50 sieht es demnach düster aus – es sei denn, das Rentensystem wird grundlegend umgestaltet.
Hagelüken ist leitender Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung. 2002 deckte er den Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit auf, was zur Hartz-Kommission führte. Später enthüllte er die geheimen TTIP-Verhandlungspapiere und dass Griechenland seit Jahren die Euro-Schuldengrenzen verletzte. Derzeit lebt er als Vater von vier Söhnen in München.
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